12 – die stockung

Hier und Jetzt… wo befinde ich mich eigentlich? Und: was habe ich schon alles erreicht? Was habe ich erlebt, was hat mich hierher geführt, welche Abenteuer habe ich bestanden? Das sind die Fragen, die dieses Hexagramm stellt – und nicht: Wo will ich jetzt hin?

Es ist wichtig, dass wir uns den eigenen Status quo ab und zu vergegenwärtigen, denn meistens nehmen wir das Erreichte mit fast schon abwesendem Kopfnicken zur Kenntnis, während wir in Gedanken schon längst wieder nächste Schritte planen.

Das Hier und Jetzt. Ein wichtigen Ressourcen für spätere, zukünftige Schritte. Das Sprungbrett für… den Sprung!

Fragestellungen

  • Eine Nutzerin befragt das I Ging: „In welcher Situation befinde ich mich?“ Als Antwort erhält sie Zeichen 12 – die Stockung.
  • Eine andere Nutzerin fragt: „Können mein Partner und ich die gegenwärtige Krise bewältigen – v. a. auch: Kann und will ich es?“
  • Eine Nutzerin schreibt: „Mein Freund und ich nehmen unter dem Zeichen 12 – die Stockung gerade eine Pause voneinander. Liebe ist da im Spiel, das ist klar. Es ist nicht leicht, ein Paar zu sein!“
  • Eine andere Nutzerin schreibt: „Ich habe mich in einen Mann verliebt, aber sobald er bemerkte, dass ich Besitz hatte, war sein Interesse weg. Zumindest behauptete er das. Vielleicht aus Selbstschutz? Es drängt mich, noch einmal Kontakt aufzunehmen, aber ich habe große Angst vor einer erneuten Zurückweisung. Meine Befragung des I Ging ergibt 12 – die Stockung.“

Fallstudie

Am Anfang des Zeichens 12 – die Stockung steht Kun, die Erde (unteres Trigramm) und weist auf den Ort hin, an dem wir uns hier und jetzt befinden. Ja, die erste Frage, die das Hexagramm stellt, lautet: wo befinde ich mich eigentlich? Was habe ich schon alles erreicht? Was habe ich erlebt, was hat mich hierher geführt, welche Abenteuer habe ich bestanden – aber die Frage lautet nicht: Wo will ich jetzt hin?
In diesem Moment zählen also das Hier und Jetzt, der eigene sichere Stand, das Gefühl, getragen zu sein, gehalten zu werden. Es ist wichtig, dass wir uns diese Dinge, unseren eigenen Status Quo, ab und zu vergegenwärtigen, denn meistens nehmen wir das Erreichte mit fast schon abwesendem Kopfnicken zur Kenntnis, während wir in Gedanken schon wieder die nächsten Schritte planen.
Und übersehen dabei wichtige Ressourcen, die uns eigentlich bereits zur Verfügung stehen – nicht zuletzt unser Selbstwertgefühl, das sich aus dem Erreichten nährt (und sich leider oft angesichts des noch-nicht-Erreichten klein fühlt).
Das folgende Zeichen ist Gen, der Berg (erstes Kernzeichen) und steht für Loslassen. Vielleicht sind uns bei unserer erdhaften Bestandsaufnahme auch Dinge aufgefallen, die unnötigen Ballast darstellen, die unsere Kräfte blockieren und uns so schwächen. Im Taijiquan ist das Loslassen einer der wichtigsten Momente im Bewegungsablauf: wir vertrauen uns im Loslassen der Schwerkraft der Erde an und befreien so Muskeln und Sehen bis sie uns schließlich von ganz alleine – gemäß ihrer Natur – vollkommen mühelos tragen. Das chinesische Zeichen, das dieses Loslassen in den Originaltexten beschreibt, zeigt eine Hochsteckfrisur, die am Abend gelöst wird: so wie das Haar locker und mühelos auf die Schultern fällt, soll das Loslassen geschehen, ohne Anstrengung, völlig entspannt, ein befreiendes Gefühl.
In der Folge wandelt sich Gen zu Sun, der Wind / Baum (zweites Kernzeichen). Wir haben losgelassen, uns von Ballast befreit und kennen auch unsere Ressourcen – nun ist es an der Zeit, unsere Kräfte zu sammeln und uns selbst zu zentrieren – um den nächsten Zyklus des Wachstums beginnen zu lassen. Und da wir nicht beim Nullpunkt anfangen, sondern uns bereits auf einem Weg befinden, für den wir uns vor langer Zeit entschieden haben, können wir uns nun der inneren Dynamik, dem Prozess dieses Wachstums vertrauensvoll hingeben.
So entsteht schließlich Qian, der Himmel (oberes Trigramm): unser eigener Geist, der auf diese Weise ein hohes Maß an Klarheit und Kohärenz entwickelt.

Einige Überlegungen

In den meisten der gebräuchlichen Interpretationen zum I Ging wird das Zeichen 12 – die Stockung im Vergleich zum vorangegangenen Zeichen 11 – der Friede eher negativ eingeschätzt. Das liegt daran, dass Trigrammen jeweils spezifische Wirkrichtungen zugeschrieben werden: Kun, die Erde, wirkt nach unten, Qian, der Himmel, wirkt nach oben. Im Zeichen 11 – der Friede bildet Qian das untere Trigramm, Kun das obere. In der traditionellen Sichtweise verzahnt sich das nach oben ausstrahlende Qian hier gewissermaßen mit dem nach unten wirkenden Kun. Im Zeichen 12 – die Stockung sind die beiden Trigramme Qian und Kun genau umgekehrt angeordnet und streben deswegen nicht aufeinander zu (wie in 11 – der Friede) sondern voneinander weg – was die negative Beurteilung erklärt. In den Bildworten wird dieser Zusammenhang mit „Himmel und Erde vereinigen sich nicht.“ ausgedrückt.
Wie man sieht, beurteile ich das Zeichen 12 – die Stockung viel positiver. Meiner Ansicht nach zeigt ein Hexagramm einen Entwicklungsprozess und keine statische Situation.
Eine weitere Aspekt ist wohl auch, in wie weit sich die Interpreten von den eher passiven Tendenzen des Hexagramms einschüchtern lassen und das Zeichen in der Folge als negativ einschätzen. Still halten und loslassen haben leider wenig mit den in unseren Zeiten so populären Aktionismus zu tun, der Action! fordert und Unsicherheit gerne mit Geschwindigkeit überspielt. Vielleicht wäre es aber ab und an doch wünschenswert, sich dem Lauf der Dinge einfach anzuvertrauen – und geschehen zu lassen.

Debra Kaatz schreibt zu Ma41 Jie Xi:

It is the warmth of the sun that ripens the harvest on earth… With this warmth we can mature and flow with ripened thoughts, ideas and feelings. When we are cared for and warm within, then we have the maturity and stability to move outward offering what we have harvested to others. In this way we are able to flow like a revitalized stream fill of warm sunlight.Kaatz 2005

Eine weitere Überlegung

Gründliche Bestandsaufnahme und Reinigung – um Raum fürs Leben zu schaffen
Dieses Zeichen zeigt einen ganz praktischen Weg zum Neuanfang: gründliche Bestandsaufnahme und Reinigung.
Die aktuelle Situation ist so stabil, dass man sie fast schon erstarrt nennen kann. Deswegen besteht wohl auch eine Tendenz zu Grübeleien, Kummer und/oder einem Gefühl der Getrenntheit. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen wäre es gut, eine kritische Bestandsaufnahme zu machen: was von all dem, was mir momentan Sicherheit und Stabilität gibt, brauche ich wirklich – und was engt mich lediglich ein?
Oft ist es nämlich so, dass Dinge und Verhaltensweisen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig für uns waren, später, nachdem sie ihren Zweck längst erfüllt haben, einfach weiter bestehen bleiben. Das Resultat ist ein Lebensumfeld voll unnützer Dinge und Verhaltensweisen – ebenso ungemütlich wie eine mit überflüssigen Möbeln zugestellte Wohnung, in der man sich kaum noch bewegen kann.
Hat man also Bilanz gezogen und innerlich losgelassen, sollten im nächsten Schritt diese Erkenntnisse ganz konkret in die Tat umgesetzt werden. So schafft man freien Raum zum Leben, für neue Leidenschaft, für Ausdruck.

Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/888777.htm

Quellenverzeichnis

— Kaatz, Debra. 2005. Characters of Wisdom: Taoist Tales of the Acupuncture Points. The Petite Bergerie Press.