52 – das stillhalten

Grafik Hexagramm 52

Fragestellungen

Zum Hexagramm 52 – das Stillhalten erhalte ich verschiedene Anfragen:

    • „Wie kann ich erreichen, in meinem Beruf selbständig zu arbeiten?“ fragt eine Nutzerin. Erläuternd ergänzt sie: „Seit ich dieses Jahr eine Weiterbildung besucht habe, spiele ich immer öfter mit dem Gedanken, mir ein zweites Standbein (Selbständigkeit) aufzubauen. Der Referent dieser Weiterbildung hat mich sehr beeindruckt, und ohnehin wollte ich bereits seit längerer Zeit neue Methoden ausprobieren und beruflich eigene Wege gehen.“
    • Ein anderer Nutzer fragt: „Darf ich mit Reiki und alternativen Methoden heilen?“ Der Nutzer arbeitet in seinem erlernten Beruf als Metzger, aber das wird ihm immer beschwerlicher, v. a. weil dieses Umfeld seine spirituellen Interessen nicht teilt. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich u. a. intensiv mit Reiki und hat großen Respekt vor dieser Arbeit. Daher seine zurückhaltende Frage, ob er mit Reiki anderen helfen darf.
    • Ein weiterer Nutzer, der das Hexagramm 52 – das Stillhalten erhält schreibt: „Ich befinde mich in einer ausweglosen Situation. Es geht nichts!“
    • Ein Nutzer fragt: „Wie höre ich am Besten mit dem Rauchen auf?“ Der Rat des I Ging: Hexagramm 52 – das Stillhalten.
    • Eine Nutzerin hat Angst, ihren Job (und damit ein stabiles Einkommen) ohne Aussicht auf eine neue Stelle zu kündigen. Der Arbeitsmarkt ist schwierig. Allerdings hat sie demnächst ein Vorstellungsgespräch und habe eine 25-prozentige Chance, denn sie ist eine von vier Bewerbern in der zweiten Runde. Dieser neue Job interessiert sie sehr.
    • Ein Nutzer fragt: „Was gilt es in der jetzigen Situation in Beziehung zu meiner Partnerin?“

Fallstudie

„Standbein und Spielbein“ fällt mir spontan ein, als ich das Anliegen der Nutzerin lese. Das Standbein, unser fester Stand, verwurzelt uns im Untergrund und nährt uns. Unser Spielbein lässt uns Freiheit erleben, Neues ausprobieren, spielerisch und manchmal wagemutig sein.
In Wikipedia finde ich zum Thema Stand- und Spielbein folgendes:

Der physiologische Bewegungsablauf des Menschen im Gehen besteht im Wechsel zwischen Stand- und Spielbein. Das Standbein bleibt in diesem Bewegungszyklus mit dem Boden verbunden und zumeist in gestreckter Haltung, während das Spielbein den Boden verlässt und im Kniegelenk leicht eingeknickt ist, während es das Bein hebt um den Schritt zu vollführen. Beim Absenken des Beines wird der Unterschenkel zunehmend gestreckt, bis er den Boden erreicht. Damit wird das Spielbein zum Standbein und das Standbein zum Spielbein.Wikipedia

Solange wir uns bewegen, wechseln die Beine dynamisch ihre Funktion als Stand- bzw. Spielbein. Nur stilles Stehen beendet diesen Wechsel.
Hexagramm 52 – das Stillhalten beginnt mit Gen, der Berg als unterem Trigramm. Gen steht für unsere Fähigkeit Loszulassen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Nutzerin möchte sich ein neues Standbein aufbauen – aber bevor ein Bein zum Standbein wird, ist es – s. oben – Spielbein. Die anvisierte Selbständigkeit sollte spielerisch – als Spielbein – starten.
Wie kann also die Nutzerin ihr Spielbein befreien und einen ersten Schritt in Richtung Selbständigkeit wagen? Indem sie Überflüssiges, Belastendes und Unnötiges loslässt und ihre Kräfte fokussiert. Je geringer sie die Belastung für das Standbein hält, umso leichter kann es den Körper zuverlässig tragen. Im Taiji bedeutet Loslassen auch „in die Wurzel sinken“, sich fest zu verwurzeln. Erst wenn diese Verwurzelung erreicht ist, das Standbein den Körper zuverlässig trägt, kann sich das Spielbein vertrauensvoll vom Boden lösen und einen neuen Schritt initiieren.
Auf das untere Trigramm <Gen, der Berg folgt Kan, das Wasser (erstes Kernzeichen). Kan hilft uns, unseren Weg zu finden. Wenn wir loslassen und uns verwurzeln, verbinden wir uns wieder mit unserem seelischen Urgrund: unsere eigene, intuitive Lebensklugheit, die wir auf dem Weg bis zum Hier und Heute gesammelt haben und aus der wir schöpfen können. Es ist gut, mit diesem Urgrund verbunden zu sein. Alle Handlungen, die wir von diesem Ort aus initiieren, haben eine spezielle Qualität, sie fühlen sich auf besondere Weise „richtig“ an. Aus unserer guten Verwurzelung im eigenen Urgrund findet das Spielbein ganz von alleine – intuitiv – seinen Weg.
Aus Kan, das Wasser (erstes Kernzeichen) wird im Verlauf des Hexagramms 52 – das Stillhalten Zhen, der Donner (zweites Kernzeichen). Zhen steht für Entscheidung und Aktion. Wenn sich Zhen aus Kan heraus entwickelt, dann geschieht Aktion aus unserem eigenen Bauchgefühl heraus. Und das ist gut so: unserem Bauchgefühl stehen schließlich – jenseits von Sprache – viel mehr Informationen zur Verfügung als dem schärfsten Intellekt. Eine Bauchentscheidung weist meist viel größere Weisheit und Festigkeit auf als eine reine Kopfentscheidung.
Zhen, der Donner (zweites Kernzeichen) wird schließlich zu Gen, der Berg (oberes Trigramm). Hier vollendet sich die Gewichtsverlagerung: aus dem Spielbein wird ein neues Standbein…

Einige Überlegungen

Auch über den Reiki-praktizierenden Metzger (zweite Fragestellung) habe ich länger nachgedacht. Leben ist Fortentwicklung. Wir fangen irgendwo, an einer bestimmten Position im Leben an, und entwickeln uns von dort aus fort. Manche Menschen legen dabei einen weiteren, manche einen weniger weiten Weg zurück. manche weniger. Anfangs- Metzger und (vorläufige) Endposition (Reiki) liegen dabei eher weit auseinander.
Oder ggf. auch nicht. Metzger sein, Ochsen zerlegen kann man auch auf sehr spirituelle Weise. Im Zhuangzi (Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland) gibt es dazu die Geschichte eines Kochs:

„Der Fürst Wen Hui hatte einen Koch, der für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! – trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes, und er traf immer genau die Gelenke.
Der Fürst Wen Hui sprach: ‚Ei, vortrefflich! Das nenn‘ ich Geschicklichkeit!‘ Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete zum Fürsten gewandt: ‚Der SINN ist’s, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich’s soweit gebracht, daß ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab‘ ich aufgegeben und handle nur noch nach den Regungen des Geistes. Ich folge den natürlichen Linien nach, dringe ein in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen entlang. Ich verlasse mich auf die (anatomischen) Gesetze. Geschickt folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen, von den großen Gelenken ganz zu schweigen.
Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt. Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre lang und habe schon mehrere tausend Rinder zerlegt, und doch ist seine Schneide wie frisch geschliffen. Die Gelenke haben Zwischenräume; des Messers Schneide hat keine Dicke. Was aber keine Dicke hat, dringt  in Zwischenräume ein – ungehindert, wie spielend, so daß die Klinge Platz genug hat. Darum habe ich das Messer nun schon neunzehn Jahre, und die Klinge ist wie frisch geschliffen. Und doch, so oft ich an eine Gelenkverbindung komme, sehe ich die Schwierigkeiten. Vorsichtig nehme ich mich in acht, sehe zu, wo ich haltmachen muß, und gehe ganz langsam weiter und bewege das Messer kaum merklich – plötzlich ist es auseinander und fällt wie ein Erdenkloß zu Boden. Dann stehe ich da mit dem Messer in der Hand und blicke mich nach allen Seiten um. Ich zögere noch einen Augenblick befriedigt, dann reinige ich das Messer und tue es beiseite.‘ Der Fürst Wen Hui sprach: ‚Vortrefflich! Ich habe die Worte eines Kochs gehört und habe die Pflege des Lebens gelernt.'“ (Dsï 1986, 54-55)

Ich finde diese Geschichte inspirierend und insofern beeindruckend, als es bei Meisterschaft darum geht, genau den richtigen Weg für ein Unterfangen zu erspüren. Sei es nun, dass man einen Ochsen zerlegen, einen Baum zu Brennholz zerschlagen oder auch einen anderen Menschen heilen möchte. Wenn man an der falschen Stelle ansetzt, ruiniert man das Werkzeug, vergeudet Energie und das Resultat ist schlecht. Aber wenn man aber den richtigen Punkt trifft, dann geht alles ganz leicht und das Resultat ist phantastisch.
Meine Überzeugung ist, dass man die Meisterschaft, die man in einem Bereich erreicht hat, auch auf anderen Gebieten nutzen kann. Denn Meisterschaft besteht möglicherweise v. a. in einer bestimmten Art von Feinfühligkeit, dem Gespür für den richtigen Weg. Insofern geht es vielleicht gar nicht so sehr um die Frage ob Metzgerei oder Reiki, sondern vielmehr darum, ob man überhaupt auf einem Gebiet Meisterschaft erlangt hat, ob damit vertraut ist, feinfühlig zu erspüren, wo der richtige Weg liegt. Und das kann man als Metzger üben, oder auch beim Holzhacken. Und beim Reiki kommt es einem dann zu Gute.
Ja, das ist eine eigenwillige Interpretation. Und rein äußerlich betrachtet liegen tote Tiere und Patienten tatsächlich ziemlich weit auseinander. Und wie das für ihn zusammenstimmt, müsste der Reiki-Metzger für sich selbst prüfen. Aber vielleicht ist ein Teil von ihm auch gerne Metzger, und der andere Teil gerne Reiki-Therapeut. Dann finde ich, dass man keinen Konflikt konstruieren muss, wenn im Herzen keiner existiert, nur weil Außenstehende da vielleicht einen Konflikt sehen möchten. Wenn man selbst klar ist, wie die Dinge für einen zusammenstimmen, dann darf man sie so auch praktizieren.

Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/887887.htm