30 – das haftende

Nützt es – oder schadet es? Wie finden wir so etwas heraus? Der direkte Weg ist wohl, es einfach auszuprobieren. Bevor wir aber losmarschieren, sollten wir die Angelegenheit zunächst sorgsam prüfen. Nichts ist so neu für uns, als dass wir gar keine Vorerfahrungen hätten. Was wissen wir also bereits? Welche Vorgeschichte gibt es? Eine von Wohlfühlen? Eine von Magengrimmen?

Und dann: eine Richtung wählen und los! Nach den ersten Metern: wie fühlt sich das an? Ist das Feedback der Umwelt positiv oder negativ? Und wieder: abwägen, prüfen, die Richtung nachjustieren. Es gibt einen Haken an dieser Art der Analyse: wir belügen uns oft und gerne. Wir verschließen die Augen und träumen uns die Welt schön. Wenn wir aber ehrlich sind, wissen wir, woran wir sind.

Fragestellungen

  • Ein Nutzer hat folgendes Anliegen: „In meiner derzeitigen beruflichen Situation gibt es eine Person, von der ich nicht genau weiß, wie sehr ich auf ihren Support zählen kann…. Einer Befragung… [ergab] 30 – das Haftende.“
  • Eine Nutzerin fragt: „Wie komme ich da raus?“ Die Antwort des I Gings lautet 30 – das Haftende.*
  • Ein Nutzer fragt: „Wie wird das Gespräch mit K. verlaufen?“
  • Ein Nutzer meldet kurz zu Hexagramm 30 – das Hhaftende zurück, dass es vielleicht  um mehr geht als differenzierende Wahrnehmung, nämlich um engagiertes Tun, das aus dieser differenzierenden Wahrnehmung geboren ist – ohne dabei aber auf das eigene Wohlbefinden zu vergessen!

* Das war die dritte Frage der Nutzerin.  Frage 1 „In welcher Situation befinde ich mich?“ ergab Zeichen 12 – die Stockung; Frage 2 „Was hat es [meine Situation] Gutes und wie geht es weiter?“ ergab Zeichen 20 – die Betrachtung).

Fallstudie

Das Zeichen 30 – das Haftende zeigt zweimal das Trigramm Li (Feuer). Neben der Bezeichnung Feuer hat Li einen weiteren Namen, der hier zum Namen des gesamten Zeichens wird: das Haftende. Dieser Name erklärt sich aus der Eigenschaft des Feuers, seinem Träger anzuhaften während es ihn verbrennt.
In no2DO assoziiere ich Li mit dem Dünndarm, der in den klassischen Texten der chinesischen Medizin als das Organ beschrieben wird, das das „Klare“ (= das, was uns dienlich ist) vom „Unklaren“ (= das was uns nicht dienlich ist) trennt. In unserem Körper wird diese klare Unterscheidung im Dünndarm getroffen – mit dem Ziel, das, was uns nützt, zu absorbieren, und auszuscheiden, was uns schadet. Aber diese Fähigkeit bezieht sich nicht nur auf Materielles, sondern schließt auch die geistige Ebene mit ein.

Die Berufskollegin, um die es in der Befragung (Fragestellung 1, s.o.) geht, ist so ein Fall. Nützt sie / schützt sie – oder nützt / schützt sie nicht? Wie finden wir so etwas heraus? Wenn wir beim Bild des Körpers bleiben: woher wissen wir, was gut für uns ist? Wie finden wir heraus, ob uns ein Nahrungsmittel gut tut – oder eben nicht?
Ich glaube, der direkte Weg ist, es einfach auszuprobieren. Wir wissen heute zumeist, welche Nahrungspflanzen gut für uns sind. Doch woher kommt dieses Wissen? Wahrscheinlich haben unsere Vorfahren die Pflanzen, die sie fanden, in kleinen Mengen zu sich genommen und einfach beobachtet, was passiert. Fühlten Sie sich nach dem Genuss wohl – oder hatten sie Magengrimmen?
Hexagramm 30 – das Haftende schlägt genau diesen Weg vor: am Anfang steht Li, sorgsame Unterscheidung, die dann eine Richtung wählt – quasi wie die Wahl eines Weges an der Kreuzung. Anschließend beschreiten wir diesen Weg (Sun, der Wind / Baum; erstes Kernzeichen; „Vorwärtsdrängen auf dem ureigenen, perfekten Weg“) und prüfen anschließend, inwieweit das Feedback der Umwelt, positiv bzw. negativ ist (Dui, der See; zweites Kernzeichen; „frische Impulse aus der Umwelt dringen zu uns durch, sind Inspiration, Feedback und Realitätscheck“). So finden wir heraus, ob etwas für uns funktioniert – oder eben nicht.
Die Berufskollegin ist ja schon länger im Umfeld des Nutzers. Welche Vorgeschichte gibt es? Eine von Wohlfühlen? Eine von Magengrimmen? Die Antwort, ob der Nutzer auf den Support der Kollegin zählen darf, liegt im Destillat aller Erfahrungen, die der Nutzer bereits mit ihr gemacht hat.
Es gibt einen Haken an dieser Art der Analyse: wir belügen uns oft und gerne. Wir verschließen die Augen vor Realitäten, die uns nicht gefallen, wir träumen uns die Welt lieber schön, denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wenn wir aber ehrlich sind, wissen wir, was Sache ist.
Hexagramm 30 – das Haftende endet mit Li: erneuter Prüfung: Jede wirklich tiefe Erkenntnis ist das Ergebnis eines langen Prozesses, eines wahrhaftigen Anhaftens an der Realität, die wieder und wieder geprüft wird, um Unterscheidungsfehler aufzudecken.

Eine weitere Fallstudie

Im Nachfolgenden gehe ich auf die Frage „Wie komme ich da raus?“ (Fragestellung 2, s.o.) näher ein. Wie kommt die Nutzerin also aus ihrer Situation wieder heraus? (Wir erinnern uns, es ging u. a. darum, sich gegen traditionelle Bewertungskriterien abzugrenzen, die sie aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung zwar bereits in Frage stellt, jedoch in ihrer persönlichen Selbsteinschätzung immer noch berücksichtigt.)
Das Hexagramm 30 – das Haftende beginnt mit Li, unserem klaren Intellekt, der unterscheiden kann zwischen dem, was uns dienlich ist und dem, was unsere Existenz unnötig belastet. Diese Differenzierung und Klärung ist sehr hilfreich, wenn es darum geht, z. B. die eigenen Denkweisen zu überprüfen. Welche Gedanken und Urteile machen mich stark? Welche Gedanken und Urteile schwächen mich? Es sind leider nur zu oft die Stimmen unseres eigenen Inneren, die unseren Seelenfrieden stören und/oder unser Vorankommen hindern.
Das Resultat dieser Befragung können wir anschließend wie einen Kompass für unser weiteres Wachstum nutzen: Sun, (Wind/Baum; erstes Kernzeichen) steht für ein sanftes, doch unerbittliches Vorwärtsdrängen auf dem ureigenen, perfekten Weg, der, wie eine Blaupause, von Anfang an vorgezeichnet ist. Im Fall der Nutzerin würde es vielleicht bedeuten, ganz konkret solche Gedanken und Wertmaßstäbe loszulassen, die sie schwächen, während sie dienliche Denkmuster betont und sich so selbst in ihrem eigenen Wachstumsprozess stärkt.
Sun wandelt sich in der Folge zum zweiten Kernzeichen Dui, der See. Dui repräsentiert die Öffnung vom Innen ins Außen. Es erlaubt dem Außen/der Umwelt, nach Innen zu dringen und Inneren,  sich nach Außen hin auszudrücken. Der sichere Schutzraum des reinen Innen wird hier gelockert und neue, frische Impulse aus der Umwelt dringen zu uns durch, sind Inspiration, Feedback und Realitätscheck für das eigene Weltbild.
Speziell dieser Realitätscheck ist wichtig, denn Li repräsentiert zwar jene Instanz unseres Selbst, die die Welt unterscheiden kann – doch sie ist wie wir menschlich, unperfekt, und kann sich sehr wohl irren.
Jede wirklich tiefe Erkenntnis hingegen ist das Ergebnis eines langen Prozesses, eines wahrhaftigen Anhaftens an der Realität, die wieder und wieder geprüft wird um Unterscheidungsfehler aufzudecken. Und so endet das Hexagramm 30 – das Haftende mit Li: erneuter Prüfung.

Einige Überlegungen

Erkennen, „das Feuer“, erwächst aus einer offenen Begegnung mit unserer Umwelt, denn diese ist unser Spiegel, in dem wir bereits Bekanntes und neue Erfahrungen miteinander abgleichen.
Unsere Umwelt funktioniert beim Erkennen als Lernumfeld, durch das wir Erkenntnis über uns selbst gewinnen, ohne dass wir zum direkten Eingreifen aufgefordert sind. Manchmal ist dieser Spiegel gnadenlos und führt uns jede Verstricktheit, Gebundenheit oder Anhaftung plastisch vor Augen – doch es nützt nichts, den Spiegel zu zerschlagen (= aktiv auf das „störende“ Umfeld einzuwirken). Besser ist es, Schlussfolgerungen über die eigene innere Verfassung zu ziehen, denn nur dort können wir wirklich etwas verändern, alles andere wäre Symptombehandlung.
Innere und äußere Welt spiegeln einander. Diese Erkenntnisarbeit ist ein kontinuierlicher Prozess im Wechselspiel zwischen analytischem Denken und intuitiver Einsicht. An ihrem Ende steht unser Frieden mit der Welt.
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/787787.htm