Hexagramm 29 – das Abgründige zeigt zweimal das Trigramm Kan, das Wasser. In vielen gängigen Deutungen des I Ging wird dieses doppelte Wasser als Sinnbild für drohende Gefahr, Angst oder Untergang gelesen. Demgegenüber plädiere ich an anderer Stelle dafür, den Blick zu weiten und die positiven Potenziale des Zeichens – und auch unserer unbewussten, unkontrollierbaren Anteile – stärker zu berücksichtigen. Denn Kan verweist – ebenso wie unser Unbewusstes – keineswegs ausschließlich auf Bedrohung, reißende Strömung oder gefährliche Abgründe: Es lässt sich ebenso gut als Symbol einer lebensspendenden Tiefe deuten, als Hinweis auf verborgene Ressourcen, intuitive Beweglichkeit und die Fähigkeit, sich Hindernissen kreativ anzupassen.
Der psychoanalytische Exkurs weiter unten entfaltet jedoch wiederum vor allem eine problematisierende Perspektive auf unsere unbewussten Anteile, für die Kan ja steht. Das hat einen einfachen Grund: Die Psychoanalyse ist ein therapeutisches Verfahren; sie begegnet dem Unbewussten vor allem dort, wo es Leiden erzeugt; ihr Augenmerk richtet sich daher zwangsläufig auf jene unbewussten Impulse, die das bewusste Leben blockieren oder gefährden. Daraus darf aber keinesfalls geschlossen werden, das Unbewusste sei an sich – oder gar ausschließlich – negativ. Problematisch wird es erst dann, wenn seine Impulse keinen symbolischen Ausdruck finden, wenn wir sie abspalten, verdrängen oder ihre Integration verweigern.
Wenn wir jedoch bereit sind, diese Impulse wahrzunehmen, ihnen Sprache oder künstlerische Form zu geben und sie so in unser Selbstverständnis einzubinden, kann sich das Unbewusste als eine ungemein kreative und belebende Quelle erweisen.
Dies erfordert freilich Arbeit und manchmal auch eine gehörige Portion Mut – und nicht jeder ist willens oder auch in der Lage, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wo jedoch die Bereitschaft vorhanden ist, steht Kan, das Wasser und in seiner Verdoppelung Hexagramm 29 – das Abgründige für den Zugang zu inneren Ressourcen, die das Leben reicher, beweglicher und letztlich freier machen.
Fallstudien
Ich habe zu Hexagramm 29 – das Abgründige zwei Situationsbeschreibungen erhalten, die eindrücklich zeigen, wie belastend die Impulse aus unseren unbewussten Anteilen sein können:
- Ein anderer Nutzer verbindet mit spiegelglatte See über Untiefen folgende Gedanken: „Spiegelglatte See bedeutet für mich so viel wie: alles totschweigen. Von außen sieht alles ruhig aus, aber unter der spiegelglatten Oberfläche gibt es gewaltige emotionale Untiefen. Diese Untiefen sind die uralten Handlungsmuster, die seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ich selbst, als Teil dieser Kette, habe keinen Einfluss darauf, mein Bewusstsein / Körperbewusstsein reagiert überhaupt nicht auf meine Wünsche nach Befreiung und Veränderung. Das Ergebnis ist, dass ich faktisch handlungsunfähig bin. Ich kann mich zwar gegen die ungewollten Umstände auflehnen, aber wenn meine Kräfte erschöpft sind, bleibt mir nur die Resignation. In meinem Fall ist es ein Kreislauf, der sich seit mehr als 50 Jahren wiederholt.“
- Ein Nutzer fragt: „Wo kann ich jetzt Freude, Frieden und Hoffnung finden – als letzter Spross eines dornigen Familiendramas, verarmt, chronisch erschöpft, innerlich emigriert? Muss die Familie immer das letzte Wort haben, dürfen wir nicht selbst über unsere Beziehungen und Bindungen entscheiden?“ Das I Ging antwortet mit 29 – das Abgründige.
Wie kann man mit solchen Situationen konstruktiv umgehen? Um es gleich vorweg zu sagen: Solche Lebenssituationen sind ernst und übersteigen manchmal die Möglichkeiten der Selbstreflexion oder des guten Gesprächs mit einem wohlmeinenden Freund. Manchmal erfordern sie einen inneren Prozess, der viel Raum und eventuell auch professionelle Unterstützung braucht.
Betrachten wir Hexagramm 29 – das Abgründige genauer, so zeigt es uns in der Abfolge der Trigramme folgenden Weg: Zunächst wandelt sich das untere Trigramm Kan (also die Quelle der Impulse aus unserem Unbewussten) zum ersten Kernzeichen Zhen, der Donner: Die Impulse steigen auf erreichen mein bewusstes Erleben, sie berühren mich, setzen etwas in mir in Bewegung. Was genau ist das? Welche Gedanken, Gefühle, Erinnerungen steigen auf? Und wie fühlt es sich an? Gerade auch körperliche Empfindungen können hier gute Hinweisgeber sein.
Aus Zhen entsteht das zweite Kernzeichen: Gen, der Berg. Wie kann ich diesem Impuls, der mich in meinem Inneren berührt hat, eine Form geben? Kann ich ihn in Sprache fassen, zum Beispiel in einem poetischen Text? Oder kann ich ihn gestalten, in Musik, in einem Bild, in einer Bewegung, einer Skulptur? Und was passiert, wenn ich diesem Objekt, dieser Form gegenübertrete? Wenn ich sie betrachte wie ein Museumsbesucher, wenn ich ihr zuhöre wie einem fremden Text? Welche Gedanken steigen dann in mir auf?
Vergegenständlichung ist ein zentraler Schritt im Umgang mit inneren Inhalten. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Gedanke nur in unserem Inneren kreist oder ob wir ihm eine materielle Gestalt geben, als etwas Eigenes, von uns Getrenntes, das dann in der äußeren Welt existiert. Denn diesem neuen, äußeren Objekt kann ich gegenübertreten, mich mit ihm stellen, und diese Konfrontation setzt fast immer weitere Assoziationsprozesse in Gang. Womit wir wieder bei Kan, dem abschließenden Trigramm wären: dem uns Unbewussten, das uns mit immer neuen Impulse bewegt.
Ja, wir sind Teil unserer Geschichte, auch Teil unserer Familiengeschichte – und das ist nicht immer leicht zu tragen. Aber wir können versuchen, dieses Erbe in unser Selbstverständnis zu integrieren, indem wir es auf unsere Weise bearbeiten, es uns aneignen und dabei verwandeln. Und vielleicht wird so aus einer fremden Last eines Tages eine innere Quelle der Kraft.
Weitere Fragestellungen zu Hexagramm 29
- Gezwungen durch äußere Umstände führt die Nutzerin eine internationale Fernbeziehung. Ihr freiheitsliebender Partner kommt gut damit zurecht, für sie selbst ist es ein „Besser-als-nichts“: Im Grunde funktioniert die Situation für sie so nicht.
- Die Vermieterin des Nutzers hat ihm wegen Eigenbedarfs gekündigt – nach weniger als einem Jahr und viel Geld für Renovierungsarbeiten. Mit drei Kindern und einem Hund ist es jedoch nicht einfach, eine bezahlbare Ersatzwohnung zu finden. Der Anwalt rät zur Ruhe. Die Frage an das I Ging lautet: „Wird geklagt und wie wird das für uns ausgehen?“
- Ein Nutzer fragt: „Werde ich mich jemals wieder einem Partner oder der Liebe öffnen können?“
Exkurs: I Ging und Psychoanalyse
Hexagramm 29 – das Abgründige
Schlagworte: Tiefe des Unbewussten | Fragmentierte und transgenerationale Erinnerung | Symbolisierung und Ausdruck
In der psychoanalytischen Theorie ist das Unbewusste nicht einfach ein Ort des Verdrängten oder ein Speicher vergangener Erinnerungen. Es ist vielmehr eine strukturierte Dimension des Psychischen, die nach eigenen Regeln funktioniert und in der das innere Erleben in rätselhaften Strukturen erscheint: verdichtet zu Chiffren, verschoben in andere Bedeutungsfelder, zerlegt in Fragmente, die der Sprache ähneln, aber ihr nie ganz entsprechen. Freud bezeichnete das Unbewusste als das „eigentlich reale Psychische“, das im Innersten des Subjekts wirkt, oft spürbar ist, sich aber nicht in klaren Gedanken oder bewusst abrufbaren Erinnerungen artikulieren lässt.
Die Inhalte des Unbewussten sind daher auch nicht in Form einer linear rekonstruierbaren Vergangenheit, als Reproduktion historischer Ereignisse abrufbar: Das Unbewusste erinnert nicht im Modus der Chronologie, sondern im Modus der Wiederkehr. Die Inhalte erscheinen symbolisch vermittelt – in Form von Wiederholungen, Träumen, Affekten oder Symptomen, kurz: als Ergebnis eines dynamischen Prozesses symbolischer Bearbeitung und entlang von Verschiebungen, Verdichtungen und affektiven Bedeutungen. Jacques Lacan radikalisiert diesen Gedanken, indem er betont, dass nicht das faktisch Geschehene, sondern das sprachlich Strukturierte – das, was benannt, gedeutet, interpretiert wurde – für das Subjekt bestimmend ist.
Das Unbewusste umfasst nicht nur das individuell Erlebte. Die moderne Psychoanalyse, insbesondere die Traumaforschung und die transgenerationale Forschung, weisen darauf hin, dass psychische Spuren auch über Generationen hinweg weitergegeben werden können – insbesondere dann, wenn sie nie symbolisiert wurden. Verlusterfahrungen, familiäre Traumata oder unbewältigte Schuld, die innerhalb eines Familiensystems nicht ausgesprochen werden konnten, können sich im Subjekt als affektive Unstimmigkeit, als irrationales Schuldgefühl oder als unbestimmte Angst manifestieren. Es handelt sich hierbei um psychisches Material, das nicht historisch erinnert werden kann, weil es nie zu eigenen Erleben gehörte – und das dennoch so wirkt, als wäre es Teil der eigenen Geschichte.
Solche Inhalte können vom Subjekt nicht unmittelbar integriert werden. Sie erscheinen zunächst in symptomatischer Form – psychisch, körperlich, relational. Sie können aber dennoch durch Prozesse der Symbolisierung bearbeitet werden: durch Sprache, durch künstlerischen Ausdruck, in der therapeutischen Begleitung. Das, was symbolisiert wird, wird dabei nicht ausgelöscht, sondern lesbar gemacht. Es wird zum Bestandteil eines reflektierten Selbstverhältnisses, zu einem Teil des Subjekts, das sich selbst befragt – auch dort, wo es sich fremd geworden ist.
Das Unbewusste erscheint oft als Ort des Abgründigen, aber es ist zugleich auch eine Quelle innerer Wahrheit und schöpferischer Kraft. In seiner Tiefe liegt nicht nur das, was uns bedrängt, sondern auch das, was uns bewegt. Es birgt nicht nur Schatten, sondern auch Möglichkeiten: unentdeckte Bedeutungen, neue Verbindungen, ungelebte Sehnsüchte, kreative Impulse. In diesem Sinne kann das Unbewusste – gerade dort, wo es symbolisiert und integriert wird – zu einer inneren Ressource werden, zu einer psychischen Tiefe, aus der Sinn, Lebendigkeit und Wandlung hervorgehen können.
Die Übersichtsseite zu diesem Hexagramm finden Sie hier:
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