Dem Weg der Wandlungen folgen: Annäherung aus Westen

Auf den Einzelseiten der Hexagramme (beispielsweise für das Hexagramm 11 – der Friede ) haben wir gesehen, wie die verschiedenen Interpretationen bei östlichen Konzepten beginnen, sich aber dann von dort aus sukzessive weiterbewegen. Wenn man diesem Ansatz folgt und das Hexagramm nun noch stärker aus westlicher Sicht deuten möchte, bietet die philosophische Anthropologie hierfür einen guten Rahmen.

Beginnen wir zu diesem Zweck wieder bei den Trigrammen. Was würde passieren, wenn wir das, was wir bisher über die Trigramme erfahren haben, mit unserer westlich geprägten Sicht auf den Menschen kombinieren?

Der Mensch: eingebunden in Gegensätze

Die Kernfrage der westlich geprägten Philosophie lautet dabei in der Formulierung Kants „Was ist der Mensch?“. Auf diese Frage antwortet die philosophische Anthropologie u.a. mit Konzepten wie „Selbst- und Weltverhältnis“, „Individuum und Gesellschaft“ oder auch „Körper und Psyche“ (bzw. subjektiver Leib und verobjektivierbarer Körper). Allesamt sind dies Gegensatzpaare, in die wir unentrinnbar eingebunden sind. Gerade genauso eingebunden, wie in das Wechselspiel von Yin und Yang

Trigramme innerhalb des Yin-Yang-Zeichens positioniert (hier übrigens nicht das gewohnte Taijitu-Symbol für „individuelles Yin und Yang“, sondern das Hotu-Symbol, das für Yin und Yang der Welt steht; vgl. Wikipedia)

Erinnern wir uns, was wir über Yin und Yang wissen – das Gegensatzpaar, das klassischerweise mit folgenden Beispielen erläutert wird:

YinYang
dunkelhell
leervoll
kaltheiß
innenaußen

In diesem Sinne könnten wir die Zweiteilung nun mit folgenden westlichen Konzepten ergänzen:

YinYang
Selbst und SelbstverhältnisIch und Weltverhältnis
IndividuumGesellschaft
Psyche und subjektiver Leibverobjektivierbarer Körper
„Ich-ganz-bei-mir“„Ich-in-der-Welt“

Selbstverhältnis und Weltverhältnis

Die Reise, die ein Hexagramm aufzeigt, kann also auch als ein verschlungener Pfad verstanden werden, der zwischen den Gegensatzpolen „Ich-ganz-bei-mir“ (Selbstverhältnis; dunkler Bereich der Grafik) und „Ich-in-der-Welt“ (Weltverhältnis; weißer Bereich der Grafik) mäandert.

Trigramme innerhalb des Yin-Yang-Zeichens: Positionen unterschiedlicher Stabiität

Dabei sind die Positionen, die die Trigramme innerhalb des Yin-Yang-Zeichens einnehmen können, qualitativ verschieden. Sie variieren von ruhig-stabil über dynamisch-bewegt bis dynamisch-kippend:

  • Ruhepunkte, ruhig-stabil: reines Yin (Kungrün markiert – Selbstverhältnis) und reines Yang (Qianrot markiert – Weltverhältnis)
  • Wegmarken, dynamisch-bewegt: Trigramme, die aus unterschiedlichen Linienarten aufgebaut sind, mit eindeutiger Dynamik (Zhen, Gen, Sun, Duigelb markiert)
  • Prüfpunkte, dynamisch-kippend: ebenfalls Trigramme, die aus unterschiedlichen Linienarten aufgebaut sind, allerdings mit einer weniger eindeutigen Dynamik bzw. mit einer Kipptendenz (Trigramme Kan und Lilila markiert)

Yin und Yang

Kehren wir noch einmal zurück zum Konzept von Yin und Yang und betrachten wir es bezogen auf das westliche Modell von Selbst- und Weltverhältnis.

Yang: Weltverhältnis

Yang, das Helle, Heiße, in der symbolischen Darstellung links als helle Fläche dargestellt, bezieht sich in diesem Modell auf die Begegnung des Individuums mit der Welt. Die zugeordneten Trigramme sind Qian, Dui, Li und Sun, wobei Qian das ruhigste, stabilste, Li das instabilste Zeichen ist.
In diesem Bereich geht es um Fragen der Grenzziehung zwischen Individuum und Umwelt. Denn solange diese Grenze unvollständig oder brüchig ist, ist auch das Individuum nicht individuiert. Es existiert nicht als eigenständiges Wesen in der Welt, sondern es ist stattdessen ein undifferenziert Teil von ihr, mit ihr verschmolzen.

Yin: Selbstverhältnis

Analog kann Yin, das Dunkle, Kalte, in diesem Modell als Begegnung des Individuums mit sich selbst verstanden werden. Die zugeordneten Trigramme sind Kun, Gen, Kan und Zhen, wobei Kun das ruhigste, stabilste, Kan das instabilste Zeichen ist.
Im Bereich von Yin geht es um innere Ganzwerdung, um Integration und Aneignung dessen, was im eigenen Inneren vorhanden ist. Es geht darum, sich auf das eigene, innere So-Sein einzulassen und Frieden mit sich selbst zu schließen.

Ruhepunkte, Wegmarken, Prüfpunkte

Die einzelnen Trigramme sind innerhalb des Yin-Yang-Symbols entsprechend ihrer qualitativen Dynamik farbcodiert.

Wir können uns die Bewegung des Dao wie eine Pendelbewegung vorstellen.

Wenn wir uns die Bewegung des Dao wie eine Pendelbewegung vorstellen, ergeben sich unterschiedliche energetische Zustände, je nachdem, wo in seinem Lauf sich das Pendel befindet:

  • an den Ruhepunkten scheint das Pendel für einen Moment still zu stehen: Kun (grün markiert) und Qian (rot markiert),
  • an den Wegmarken bewegt sich das Pendel dynamisch, die Richtung ist eindeutig, das Momentum nimmt zu: Zhen, Gen, Sun, Dui (gelb markiert),
  • Prüfpunkte sind Kipppunkte, an denen das Pendel abrupt seine Richtung wechselt. Die Abwärtsbewegung wird zur Aufwärtsbewegung und umgekehrt, bzw., in diesem Interpretationsmodell, der Fokus wechselt vom Selbstverhältnis zum Weltverhältnis und umgekehrt. Die entsprechenden Trigramme sind Kan und Li (lila markiert).

Ruhepunkte: Qian und Kun

Die beiden Ruhepunkte sind die Trigramme Qian, der Himmel, (reines Yang, rot) und Kun, die Erde, (reines Yin, grün). Beide bestehen aus identischen Linien, also ausschließlich aus (durchgezogenen) Yang-Linien bzw. (durchbrochenen) Yin-Linien.
In Qian ist die Begegnung mit der Welt vollendet, und zwar im Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit in der Welt: Ich weiß, dass ich ein von der Umwelt getrenntes Individuum bin – und als solches kann ich auf die mich umgebende Umwelt einwirken.
In Kun ist das Individuum ganz bei sich, hat bei sich selbst Frieden gefunden, indem es bewusste und (ehemals) verdrängte Anteile integriert hat und nun aus ihnen schöpfen kann.

Wegmarken: Sun, Dui, Zhen, Gen

Die vier Wegmarken (gelb) bedeuten die Art von Erschütterung, die positive Dynamik erzeugt.
Bei den Trigrammen Dui, der See, und Gen, der Berg, entsteht Bewegung, indem sich oben eine dem vorangegangenen Zeichen jeweils entgegengesetzte Linie anfügt. Beide Zeichen öffnen sich der (jeweils anderen) Welt und lassen sich berühren – von inneren (Gen) bzw. äußeren (Dui) Impulsen -, auch wenn dies zunächst als Gefährdung erscheinen mag.
Bei Zhen, der Donner, und Sun, der Wind / Baum, hingegen nimmt die wechselhafte Dynamik des vorangegangen Zeichens nun eine klare Richtung an: hin zu inneren (Zhen) oder äußeren (Sun) Impulsen.

Prüfpunkte: Li und Kan

Auch die Trigramme Li, das Feuer, und Kan, das Wasser, sind dynamische Zeichen. Aber hier ist die Dynamik abrupt, gefährlich, schwer zu kontrollieren.
Yin und Yang haben hier die Tendenz, unvermittelt ineinander überzugehen, gewissermaßen zu kippen. Daher stellen Li und Kan in diesem Modell Prüfpunkte (lila) dar: Hier zeigt sich, wie weit die beiden Bereiche – innere Integration und Umgang mit der äußeren Welt – bereits entwickelt und gereift sind.

Der Weg ist das Ziel

Was ist nun das Ziel der Entwicklung, des Entwicklungsweges, den das I Ging aufzeigt? Oder, anders gefragt: Ist es wünschenswert, als Antwort auf eine Frage stets reines Yin oder reines Yang zu erhalten? Hat man es dann geschafft?

Ja und Nein. Natürlich ist es sinnvoll, um die eigene Selbstwirksamkeit in der Welt zu wissen und in der Welt selbstwirksam zu handeln. Genauso, wie es auch wichtig ist, im eigenen Inneren zu einer integrierten, friedvollen Ganzheit gefunden zu haben und in dieser zu ruhen.

Aber das Leben ist lebendig und prüft uns ständig. Ziel des Weges ist keinesfalls die Flucht aus der Welt und vor ihren Prüfungen, sondern eher das Gegenteil: Präsentsein in der Welt und sich ihr mit all ihren Herausforderungen mutig zu stellen. In diesem Sinne ist das Ziel des Weges, den Weg selbst bestmöglich zu meistern: mit einer gewissen Resilienz, die trotz aller Herausforderungen immer wieder zu einer friedvollen Position zurückfindet – sowohl in der inneren wie auch in der äußeren Welt.

Und in diesem Sinne kann die Befragung des I Ging ein durchaus sinnvolles Hilfsmittel sein. Weil sie uns aufzeigt, in welchen Bereichen unserer Existenz neue Lernerfahrungen auf uns warten.