Wang Bi: Die Bilder gehen aus den Ideen hervor.

Die Bilder gehen aus den Ideen hervor. Die Worte machen die Bilder klar. Um die Ideen vollständig auszudrücken, gibt es nichts Besseres als die Worte. Die Worte sind aufgrund der Bilder entstanden. Daher kann man die Bilder schauen, indem man die Worte untersucht. Die Bilder werden von den Ideen beherrscht. Daher kann man die Ideen schauen, indem man die Bilder untersucht. Die Ideen werden durch die Bilder vollständig erfasst und die Bilder durch die Worte klar gemacht. Daher haben die Worte den Zweck, die Bilder zu erklären; hat man die Bilder erfasst, so vergisst man die Worte. Die Bilder haben den Zweck, die Ideen zu erkunden; hat man die Ideen erfasst, so vergisst man die Bilder.

Ebenso hat das Verfolgen der Spur eines Hasen den Zweck, seiner habhaft zu werden. Hat man ihn gefasst, so vergisst man die Spur. Die Fischreuse hat den Zweck, der Fische habhaft zu werden. Hat man sie gefasst, so vergisst man die Reuse.
Nun denn, so sind die Worte die Spur zu den Bildern. Die Bilder sind die Reuse für die Ideen. Wer daher bei den Worten stehenbleibt, wird nicht die Bilder erfassen, und wer bei den Bildern stehen bleibt, wird nicht die Ideen erfassen. Zimmermann 2007, 64 und Anmerkung 14

Wang Bi bezieht sich mit diesem Zitat auf das I Ging, das chinesische Buch der Wandlungen. Der Ansatz, dass es Ideen gibt, die allen Dingen zugrunde liegen, ist keine chinesische Erfindung, er taucht auch früh in der europäischen Philosophie auf. Platons Ideenlehre geht von real existierenen, unveränderlichen, urbildhafte Prinzipien aus, die man aber dennoch nicht direkt sinnlich wahrnehmen kann. Während über den urbildhaften Ideen bei Platon als höchste Instanz das „das Gute“ (agathón) steht, fallen die 64 unveränderlichen Bilder des I Ging im ewigen Dao in eins. Was für unseren Kulturkreis neu ist, dass wir mit dem I Ging, dem Buch der Wandlungen, eine Hilfsmittel gereicht bekommen, mit dem wir uns den abstrakten, allen Dingen zugrunde liegen Ideen annähern können.

Wang Bi geht jedoch noch einen Schritt weiter – und hier wird sein Ansatz revolutionär: man kann und soll dieses Hilfsmittel (die Spur des Hasen, die Fischreuse, das I Ging), zur Seite legen, sobald man die Ideen erfasst hat.

Das I Ging ist in der überlieferten Form als Textus receptus, einer der in Stein gravierten kanonischen Schriften Chinas, weit verbreitet. 1972 wurde jedoch in Mawangdui, China, eine Grabbibliothek entdeckt, die u. a. eine Abschrift des I Ging enthält, die weitaus älter ist und zu ca. 25 % vom Textus receptus abweicht.

Wang Bi’s Kommentar greift im Grunde einem Konflikt vor, der heute, nach dem Fund von Mawangdui, sehr aktuell ist: welche Bedeutung hat das Buch an sich, seine Struktur, die Formulierungen und Worte, die Reihenfolge der einzelnen Hexagramme?

Wang Bi sagt, sie sind lediglich ein Hilfsmittel, das uns den Weg zu den unveränderlichen Ideen weisen sollen – und löst damit den Konflikt auf elegante Weise.
Dominique Hertzer, eine deutsche Wissenschaftlerin, die das Mawangdui-Yijing [I Ging] äußerst sorgfältig übersetzt und analysiert hat, schließt ihre Untersuchung so auch mit folgenden Worten:

Betrachtet man das Mawangdui-Yijing und die überlieferte Version schließlich als Ausdruck einer Idee, die dem Menschen Einblick in die sich zyklisch wiederholenden Gesetzmäßigkeiten des kosmischen und menschlichen Geschehens gewährt, damit der durch die Kenntnis der Wandlungsprozesse in der Vergangenheit und die Bestimmung der eigenen Position in der Gegenwart seine Zukunft selbst zu gestalten vermag, zeigt der Grabfund von Mawangdui nicht nur neue, bisher verborgene Perspektiven des Überlieferten Yijing auf, sondern taucht auch die alten, bereits bekannten Aspekte in ein neues Licht. Hertzer 1996, 204

Quellenverzeichnis

— Hertzer, Dominique. 1996. Das alte und das neue Yijing. Die Wandlungen des Buches der Wandlungen. München: Diederichs.
— Zimmermann, Georg. 2007. I Ging – Das Buch der Wandlungen. Düsseldorf: Patmos.